Kopfland

Beim ersten Mal fiel es Martin überhaupt nicht auf. Ihm waren die Münzen vom Tisch gefallen und er hatte nur ein merkwürdiges Gefühl, als er sie wieder aufhob, konnte aber nicht beschreiben, was ihn an dem Anblick der auf dem Boden liegenden Münzen eigentlich störte. Auch die nächsten Male, als es ihm passierte, bemerkte er es nicht und machte sich daher auch keine weiteren Gedanken. Aber unweigerlich musste der Tag kommen, an dem es dann auffiel und er sich ernsthaft Gedanken machen musste.

Martin saß in seiner Lieblingskneipe und trank mit ein paar Freunden sein Bier. Es war schon ziemlich spät, als er endlich zahlen wollte und da passierte es ihm, dass ihm eine Münze aus der Hand glitt und über den Boden rollte. Der Zufall wollte es, dass diese Münze dazu dienen konnte genau seine Zeche zu bezahlen und daher bückte er sich und kroch unter die Bank, unter welche die Münze gerollt war. Er fand die Münze und hob sie auf. Wieder aufgerichtet, öffnete er seine Hand und sah die Münze auf seiner Handfläche liegen und stutzte. Obwohl er schon ziemlich müde war, oder vielleicht gerade deshalb, und wohl auch, weil er schon was getrunken hatte, wiederholte er in Gedanken den Vorgang, als er die Münze aufgenommen und in seine Hand genommen hatte.

„Stellt euch vor, die Münze lag mit der Zahl nach oben“, sprach er, selber etwas fassungslos seine Freund an und erntete natürlich sofort allgemeines Gelächter. Nun war es sicher der Alkohol, der Martin ärgerlich werden ließ. „Doch, wirklich, die Münze lag mit der Zahl nach oben. Ich habe sie so in die Hand genommen“, wobei er die Bewegung mit seiner Hand nachmachte, „und nun liegt sie so in meiner Handfläche.“ Martin zeigte seine offene Hand, in der unschuldig die Münze lag. „Du bist besoffen“, „Keiner merkt sich, wie er eine Münze aufgehoben hat“, „Du hast dich sicher geirrt“, die Bemerkungen seiner Freunde gellten durch die Kneipe. Martin wurde immer mehr zum Zentrum der Witze und des Spotts und daraufhin wurde er immer wütender, denn er war sich sicher, dass er sich nicht täuschte. Schließlich wurde es ihm zu bunt und er holte alle Münzen aus seinem Portemonnaie und warf sie auf den Tisch. Natürlich zeigten alle Münzen einen Kopf, ein Wappen, Eichenkränze und nicht eine einzige die Zahl, die ihren Wert anzeigte.

Gedrückt vom Spott seiner Freunde ging Martin nach Hause und setzte sich an seinen Küchentisch. Er war sich so absolut sicher gewesen, dass er nicht wahrhaben wollte, dass er kein besonderer Mensch sei und ihm auch nichts wiederfahren war, was in irgendeiner Hinsicht merkwürdig war. Wieder holte er sein Portemonnaie hervor und kramte seine gesamten Münzen heraus. Er warf sie auf den Tisch, auch diesmal ohne erkennbares Ergebnis, was nicht zu erwarten gewesen wäre. Er sammelte sie ein, warf sie wieder. Und immer wieder sammelte er sie ein, warf sie, betrachtete das Ergebnis und sammelte sie wieder ein. Er hatte dies wohl schon zum zwanzigsten Male getan, da passierte es. Lustlos, schon fast schlafend ließ er die Münzen auf den Tisch fallen, sich schon fast sicher, dass er sich doch getäuscht hatte, da lagen die Münzen vor ihm. Es waren sieben. Zwei Ein-Euro-Stücke, die den Bundesadler zeigten, drei Ein-Cent-Stücke, welche ein Eichenblatt zeigten, ein Zwei-Euro-Stück mit dem Gesicht eines Politikers und dann einen Rubel, den er einmal geschenkt bekommen hatte und den er seit dieser Zeit mit sich trug. Der Rubel zeigte deutlich sichtbar die '1', die seinen Wert bestimmte und die kyrillischen Schriftzeichen, von denen er wusste, dass sie das Wort „Rubel“ bildeten.

Martin war mit einem Male stocknüchtern und seine Müdigkeit war wie verflogen. Mit zitternden Fingern nahm er den Rubel auf, drehte ihn herum und herum, betrachtete ihn von allen Seiten. Schaute sich die Kanten an. Nichts. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Rubel sich in irgendeiner Art von anderen Münzen unterschied, aber dennoch hatte er mit der Zahl nach oben gelegen. Für einen winzigen Moment schoss Martin der Gedanke durch den Kopf, dass der Grund für all das darin zu suchen wäre, dass es sich um einen Rubel handelte, aber dann erinnerte er sich daran, dass in der Kneipe das Gleiche mit einer Euro-Münze passiert war.

Er stand auf und bereitete sich eine Kanne Kaffee. Während der Kaffee kochte holte er Papier und Bleistift und seine Digitalkamera. Ihm war natürlich klar, dass ein Photo nichts beweisen würde, aber er wollte wenigstens für sich selber sicher sein. Mit aller Akribie ging er daran nun seine Versuche zu protokollieren. Er verwendete den Rubel nicht mehr, sondern nur noch Euro-Münzen und warf diese immer wieder auf den Tisch, photographierte sie immer wieder und warf sie erneut. Außerdem notierte er jedes Wurfergebnis.

Der Himmel wurde langsam hell und die Kanne Kaffee war längst geleert, als er mit seinen Versuchen aufhörte. Er addierte alle Ergebnisse und dann stand es schwarz auf weiß vor ihm: Von 1602 Münzen, die er in den letzten Stunden geworfen hatte, waren 1589 mit der Kopf oder dem Eichenblatt nach oben auf den Tisch gefallen, aber eben auch 13 mal hatte die Zahl oben gelegen. Das entsprach einem Anteil von 0,82%.

Halb ohnmächtig von der Anstrengung der letzten Stunden und schockiert von dem Ergebnis wankte Martin ins Bett und schlief einen unruhigen, kurzen Schlaf.

Er erwachte schweißgebadet und stellte sich zunächst einmal lange unter die heiße Dusche, um wieder einigermaßen klar denken zu können. Danach rief er bei seiner Arbeitsstelle an und entschuldigte sich, dass er heute nicht kommen könne, da es ihm nicht besonders gut ginge, was ja auch mehr als richtig war.

Erst dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer an. Die Suchmaschine lieferte ihm genau die Ergebnisse, mit denen er gerechnet hatte. Die bekannten Anomalien der Naturwissenschaft standen auf dem Bildschirm: Die Anomalie der Oszillationsebene des Foucaultschen Pendels, die der Merkurperiheldrehung (die allerdings von Einstein erfolgreich erklärt worden war), die Anomalie des Wassers und natürlich auch die Anomalie des Münzwurfs.

Stunden saß er vor seinem Rechner und zapfte jede Quelle an, die er im Internet finden konnte, aber die Ergebnisse waren immer die gleichen: Von der Münzanomalie war nicht eine einzige Ausnahme bekannt, auch nicht in Russland, wie er gestern kurzfristig geglaubt hatte. Sie war ein ganz einfaches und sicheres Naturgesetz.

Nur schien dieses Gesetz in seiner Welt nicht mehr zu existieren.

Er durchsuchte auch alle Medien mit aktuellen Nachrichtenmeldungen. Aber auch dort fand er keinen Hinweis darauf, dass seine Erfahrung vielleicht von anderen auch gemacht wurde.

Der Nachmittag war schon weit voran geschritten und er hatte sich ein kleines Essen zubereitet, als er beschloss erst einmal abzuwarten, ob vielleicht in den nächsten Tagen Meldungen eintrafen, die seine Versuche bestätigten: Die Welt fiel auseinander, ihre Gesetze verloren ihre Gültigkeit. Zumindest das eine Gesetz.

Martin setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und notierte sorgfältig die Konsequenzen, die seine Entdeckung für ihn haben könnte. Der einfachere Fall war der, bei dem die Entdeckung auch von anderen in der nächsten Zukunft gemacht würde. Bald wären sicherlich die Zeitungen voll von Meldungen über das Phänomen und er verlöre nur die Ehre es als Erster entdeckt zu haben, aber darauf konnte er verzichten. Schlimmer sah die Sache aus, wenn sich dieses Phänomen nur bei ihm zeigen würde. Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was dann passieren würde, hatte er gestern Abend mit seinen Freunden erlebt. Aber es war nicht alleine die Angst ausgelacht zu werden, mindestens ebenso groß war die Furcht mit seiner Entdeckung an die Öffentlichkeit zu treten und dann, wenn er den Beweis antreten sollte, zu versagen. Er ging alle Möglichkeiten durch und rief dann seinen Freund Peter an. Obwohl er ihm am Telefon natürlich nicht erklärte worum es genau ging, war Peter dennoch bereit bei ihm vorbei zu kommen und er traf dann auch ein paar Minuten später bei Martin ein.

Martin öffnete zwei Flaschen Bier und erläuterte dann Peter, worum es ging. Dieser zeigte sich naturgemäß sehr skeptisch und zweifelte die Worte von Martin an, aber schließlich ließ er sich doch dazu überreden, an einem Versuch teil zu nehmen. Martin nahm wieder seine sechs Münzen auf und warf sie auf den Tisch. Diesmal brauchte er gar nicht lange zu warten. Schon bei seinem dritten Wurf lag eine Ein-Euro-Münze mit der Zahl nach oben auf dem Tisch und Martin konnte sehen, wie Peter fassungslos auf die Münzen sah. Er wollte es nicht glauben, obwohl er es doch gerade gesehen hatte und vermutete Betrug oder einen Produktionsfehler der Münze, obwohl sein Einwand natürlich lächerlich war. Die beiden versuchten es noch einmal mit Münzen, die allesamt Peter gehörten und die er mitgebracht hatte. Es dauerte zwar etwas länger, aber nach einer Viertelstunde lag ein Zehn-Cent-Stück mit der Zahl nach oben auf dem Tisch. Auch Peter versuchte sich an den Münzen, aber so oft er auch warf, sie zeigten immer den Kopf oder das Eichenblatt, so wie es sich gehörte. Das änderte aber nichts daran, dass hier offensichtlich etwas passierte, was das gesamte Weltbild zerstören konnte. Wenn man sich nicht mehr auf die Naturgesetze verlassen konnte, worauf konnte man sich denn dann noch verlassen.

Gemeinsam sahen sie noch einmal im Internet nach. Schon auf der ersten Seite, einer Seite über Mathematik stand eindeutig: „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Münze mit der Zahl nach unten auf eine ebene Flache landet, wenn sie geworfen wird, ist Eins.“ Auch auf einer Seite über Physik war der Sachverhalt eindeutig dargestellt. „...zu den Anomalien der Naturgesetze gehört der Münzwurf. Wann immer eine Münze auf eine ebene Fläche geworfen wird, dann kommt sie in jedem Fall so zu liegen, dass die Zahl zuunterst liegt.“ Es fand sich sogar eine Seite, die nur dieses Naturphänomen beschrieb. Hier war sogar akribisch aufgeführt, wie hoch die Wurfhöhe sein musste, damit dieser Effekt eintrat, denn natürlich war es möglich eine Münze so zu werfen, dass die Zahl nach oben zeigte. Man musste die Münze nur waagerecht knapp über eine Fläche halten und diese dann fallen lassen. Sie drehte sich dann natürlich nicht in der Luft um. Warf man die Münze in dieser Art und Weise, dann konnte man sie sogar aus Höhen von fast einem Meter fallen lassen und trotzdem landete sie immer so, dass die Zahl oben lag. Wurde die Münze allerdings nicht waagerecht gehalten und dann fallen gelassen, dann legte sie sich unweigerlich so, dass die Zahl unten lag. Selbst, wenn man eine Münze, auf der Kante stehend, in Drehung versetzte, legte sie sich, wenn der Drehimpuls verbraucht war, so auf die Unterlage, dass die Zahl nach unten zeigte.

Auf der Seite fand sich sogar ein Hinweis auf einen japanischen Betrüger, der einmal Münzen geworfen hatte, die mit der Zahl nach oben zu liegen kamen, aber man hatte schnell herausgefunden, dass er die Münzen präpariert hatte. Unter wissenschaftlichen Bedingungen war nicht ein einziger Fall nachgewiesen, in der es eine Ausnahme gegeben hätte.

Das Phänomen betraf ausschließlich Münzen. Flache Scheiben, aus Metall oder einem anderen Material, zeigten dieses Phänomen nicht. Hier war die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf der einen oder anderen Seite landeten genau 50%.

Interessant waren auch die Deutungsversuche, welche Wissenschaftler unternommen hatte, um die Anomalie bei den Münzen zu erklären. Der Effekt war schon lange bekannt. Jedes Kind kannte aus dem Physikunterricht das Bild des römischen Mosaiks, welches drei Münzen zeigte unter denen der Spruch „Nomisma semper caput zu lesen war. Nahezu genau so alt waren die Versuche die Sache zu erklären. Die ersten Versuche das Phänomen zu erklären, waren allerdings geradezu bizarr. Der Mönch Benedikt de Huy schrieb, dass Gott durch den profanen Anblick des Münzwertes beleidigt würde und daher die Natur so eingerichtet habe, dass die Münze immer nur den Kopf zeige. Er forderte sogar, dass niemand eine Münze mit dem Zahlwert nach oben auf einen Tisch legen dürfe. Interessanter waren da schon die Erklärungsversuche zum Beginn der Aufklärung. Hier finden sich erst Hinweise darauf, dass systematisch Untersuchungen angestellt wurden, welche die Gewichtsverteilung in Münzen untersuchten. Natürlich ohne nennenswertes Ergebnis. Als dann die Wahrscheinlichkeitsrechnung anfing allgemein verwendet zu werden, lief das Verhalten der Münzen beim Wirf schon unter dem Begriff Anomalie und niemand beschäftigte sich noch ernsthaft damit. Man sah die Sache einfach als gegeben an und lebte damit.

Nun schien es mit den einfachen Erklärungen vorbei zu sein. Peter schlug zunächst vor die Experimente bei ihm zu Hause durchzuführen, um sicher zu sein, dass der Effekt nicht nur bei Martin auftrat. Die Beiden gingen also zu Peter, nur um auch dort festzustellen, dass bei den Würfen Martins ungefähr ein Prozent aller Würfe ein Ergebnis zeigte, das eigentlich so nicht sein konnte, worauf hin sie überlegten, wie weiter zu verfahren sei. Sie waren beide aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts und brauchten sicherlich keine Verfolgung durch die Kirche, wegen Lästerung der göttlichen Ordnung zu befürchten. Aber dennoch dauerte es noch eine ganze Zeit, bis sie einen Weg gefunden hatten, mit der Frage um zu gehen.

In den folgenden Tagen gelang es Martin seine Würfe einem Physikprofessor zu zeigen, der an der örtlichen Universität lehrte und der sie nicht gleich abwimmelte. Innerhalb von Wochen war Martin und seine Münzwürfe berühmt. Er trat im Fernsehen auf, ließ sich von Talkshowmoderatoren interviewen und musste immer wieder seine Münzen werfen. Es war übrigens gleichgültig, welche Art von Münzen er verwendete. Immer lagen circa ein Prozent der Münzen mit der Zahl nach oben. Er wurde untersucht, seine Würfe mit schnellen Kameras aufgezeichnet und sicher gestellt, dass kein wie auch immer gearteter Trick hinter der Sache stand. Aber letztlich fand sich für die ganze Sache keine Erklärung und seine Eigenart fand als „Martinsche Anomalie“ Eingang in die Mathematik- und Physikbücher.


Mathematik

Die gesamte obige Geschichte dürfte ihnen vermutlich daher so seltsam anmuten, weil sie sich bisher noch nie mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auseinander gesetzt haben. Sie soll ihnen schon einmal als Einstieg eine Ahnung davon vermitteln, was auf sie in diesem Text noch so alles zukommen wird. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist ein relativ junger Zweig der Mathematik. In den Zeiträumen der Mathematik bedeutet dies, dass sie circa 400 Jahre alt ist. Sie wurde zunächst von Blaise Pascal und Pierre de Fermat erfunden, um bei Glücksspielen Regelmäßigkeiten feststellen zu können und Siegchancen bei einem Spiel berechnen zu können, fand aber später in anderen Zusammenhängen ihre eigentliche Bedeutung. Heutzutage ist sie aus fast keinem wissenschaftlichen Umfeld mehr wegzudenken und durchsetzt weite Teile unseres täglichen Lebens.

Im Allgemeinen wird die Wahrscheinlichkeitsrechnung als der Teil der Mathematik angesehen, der mehr mit unserem Leben zu tun hat, als jeder andere Teil der Mathematik. Das ist auch richtig, allerdings nicht unbedingt in dem Sinne, wie es allgemein angenommen wird. Um das näher erläutern zu können, ist es nötig sich zunächst einmal Gedanken über die Bedeutung der Mathematik überhaupt zu machen. Erst wenn dieser Teil erledigt ist, kann ich wieder auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung zurück kommen.

Es gibt eigentlich nur zwei Sichtweisen der Mathematik. Entweder sie wird als Hilfswissenschaft für alle anderen Wissenschaften angesehen, oder sie wird als reine Geisteswissenschaft angesehen, wovon die erste Sichtweise sicherlich die populärere ist. Ich will versuchen aufzuzeigen, dass beide Sichtweisen nicht konträr sind und dass sie sich verbinden lassen, auch wenn dabei der Begriff „Hilfswissenschaft“ so nicht haltbar bleibt.

Die Hilfswissenschaft Mathematik

Man muss sich eigentlich nur einmal verdeutlichen, was es heißt, wenn von der Mathematik als Hilfswissenschaft die Rede ist. Gemeinhin wird das so verstanden, dass die Naturwissenschaften versuchen die Natur möglichst genau zu beschreiben und zwar so, dass auch Vorhersagen über künftige Ereignisse in der Natur möglich sind. Dabei stellt man schnell fest, dass die Natur als solche viel zu komplex ist, als dass sie sich direkt beschreiben ließe. Daher wird eine „Sprache“ verwendet, mit der eben genau diese Beschreibung der Natur in einer eindeutigen Art und Weise erledigt werden kann, eben die Mathematik.

Ich möchte ein Beispiel verwenden, um das deutlich zu machen. Dazu will ich einen einfachen physikalischen Sachverhalt mit Hilfe der Mathematik beschreiben, eine Bewegung.

Wenn man eine Bewegung betrachtet, so gibt es drei Größen, die dabei eine Rolle spielen: Die Geschwindigkeit, die Zeit und die Strecke. Kennt man zwei der Größen, dann kann man die dritte bestimmen. Weiß man z.B. dass sich ein Auto zwei Stunden lang mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h bewegt hat, dann weiß man auch, dass es sich über eine Entfernung von 140 Kilometern bewegt hat. Weiß man, dass ein Auto drei Stunden brauchte, um eine Entfernung von 180 Kilometern zu überbrücken, dann weiß man auch, dass es sich mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h bewegt hat. Weiß man schließlich, dass eine Auto eine Strecke von 200 Kilometern mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 50 km/h fährt, dann weiß man auch, dass es dazu vier Stunden brauchen wird.

Diesen Sachverhalt in der Natur kann man nun mit Hilfe der Mathematik in der einfachen Gleichung:

v=s/t

ausdrücken, wenn man sich darauf einigt, dass der Buchstabe „v“ für die Geschwindigkeit, der Buchstabe „s“ für die Strecke und der Buchstabe „t“ für die verflossene Zeit steht. Ersetzt man nun in dieser Gleichung zwei der Buchstaben durch die jeweils bekannten Werte, dann erhält man eine Gleichung, die man nach den Regeln der Mathematik leicht lösen kann, was nichts anderes bedeutet, als dass man den dritten, gesuchten Wert ermittelt.

Die obige Gleichung stellt also eine vereinfachte Sichtweise der Natur dar und zwar in dem Maße, dass damit sogar Aussagen über die Zukunft gemacht werden können. Wenn ich z.B. weiß, dass ich normalerweise mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 60 km/h Auto fahre und darüber hinaus, dass die von mir zurück zu legende Strecke 640 Kilometer lang ist, dann kann ich mit Hilfe der Formel vorhersagen, dass ich in knapp 11 Stunden mein Ziel erreicht haben werde.

Ich habe bewusst einen so einfachen Sachverhalt gewählt, um das Augenmerk nicht auf mathematische Schwierigkeiten zu lenken, sondern auf den eigentlichen Lösungsweg. Besonders will ich hier auf den Zusammenhang zwischen der Lösung im mathematischen Bereich und der eigentlich gesuchten Lösung hinweisen. Graphisch sieht der Zusammenhang folgendermaßen aus:















Die Aufgabe aus der Natur, die Frage, wie lange ich für eine Strecke mit einem Auto brauche, wird also erst einmal in die Sprache der Mathematik übersetzt, es wird die mathematische Gleichung:

60 = 640 / t

umgesetzt. Wenn man diese Gleichung löst, erhält man

t = 10,66666666

Diesen Wert für 't' muss man nun wieder zurück übersetzen und damit die eigentliche Frage beantworten, wie lange die Autofahrt dauern wird.

Ich habe die graphische Darstellung bewusst so gewählt, dass erkennbar wird, dass es eine „Seite der Natur“ und eine „Mathematische Seite“ gibt, weil das am ehesten der allgemeinen Vorstellung entspricht. Dabei wird angenommen, dass die Vorgänge in der Natur diejenigen sind, die unveränderlich Naturgesetzen folgen und der Mensch daher eine Mathematik erfinden muss, die diesen Vorgängen in der Natur entspricht.

Die reine Geisteswissenschaft Mathematik

Die zweite Sichtweise der Mathematik, die ich oben angesprochen habe, ist eine etwas andere. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die Mathematik nur die menschliche Fähigkeit, Mathematik zu betreiben, beschreibt. Wenn es dann Übereinstimmungen zwischen den Sätzen dieser Mathematik und den Beobachtungen aus der Natur gibt, dann ist das rein zufällig und nicht in der Absicht der Mathematik und auch nicht in deren ureigenen Sinn.

Daraus ergibt sich dann eine Dreiteilung derer, die mit Mathematik und den Naturwissenschaften zu tun haben. Zum einen die „reinen“ Mathematiker, dann diejenigen, welche die Natur erforschen und dann die dritte Gruppe derer, welche die Ergebnisse der einen Gruppe mit denen der anderen Gruppe in Übereinstimmung bringen will.

Auch bei dieser Sichtweise ergibt sich also wieder die Unterscheidung zwischen Natur und mathematischem Inhalt, allerdings werden hier die Akzente etwas anders gesetzt.

Der mentale Charakter der Mathematik und der Natur

Egal, wie man die Mathematik und ihre Bedeutung nun ansieht, in jedem Fall bleibt es aber bei den beiden Sphären der Mathematik und der Natur und darüber hinaus der Frage, wie die beiden Sphären in Beziehung zueinander stehen und ob es Analogien gibt, die sich ausnutzen lassen.

Bevor man sich dieser Frage allerdings nähern kann, sollten die beiden Sphären genauer untersucht werden.

Es dürfte ohne Zweifel sein, dass sich die Mathematik alleine in einer mentalen Sphäre abspielt. Es gibt die „Gegenstände“ der Mathematik nicht „in der Wirklichkeit“. Damit ist gemeint, dass alle Elemente der Mathematik nicht als Gegenstände in der erfahrbaren Welt vorkommen. Zahlen, Funktionen, Operatoren sind nichts, was man mit seinen Sinnen wahrnehmen kann. Man kann sie nicht sehen, fühlen oder riechen. Es sind allesamt abstrakte Konstruktionen unseres Bewusstseins. Auch die Elemente der Geometrie, Gerade, Winkel, Fläche, usw. sind ebenfalls nichts, was man in der Natur antreffen kann. Man kann zwar eine Linie mit einem Bleistift auf ein Stück Papier zeichnen, aber das ist nur eine Annäherung an das, was in der Geometrie als Linie oder Gerade bezeichnet wird. So hat z.B. eine Gerade in der Geometrie keine Breite; jede gezeichnete Gerade aber, und sei sie auch noch so fein, hat immer noch eine Breite.

Weiterhin ist die Mathematik nicht nur eine rein mentale Angelegenheit, sie unterliegt auch vollständig unserem Bewusstsein. Alle ihre Inhalte müssen bewusst gelernt oder entdeckt werden. Übrigens ist hier das Wort „Entdecken“ wörtlich zu verstehen. Alle Mathematik, egal welche Teildisziplin, geht von Axiomen aus und deduziert alle weiteren Aussagen ausschließlich von diesen Axiomen. Da die Deduktion nichts wirklich Neues ans Tageslicht bringen kann, ist es also sinnvoll davon zu sprechen, dass hier nur „Wahrheiten“, die schon in den Axiomen verborgen sind, entdeckt werden. Man könnte auch sagen, dass Mathematik nichts anderes ist, als die Beschäftigung mit der Frage, welche Eigenschaften sich aus einer Reihe von Axiomen ableiten lassen.

Die Mathematik ist also eigentlich nichts anderes, als ein ziemlich umfangreiches Gedankenspiel.

Wie sieht es nun in der Sphäre der Natur aus. Die Philosophie hat uns in vielfältiger Weise klar gemacht, dass auch das, was wir von der Natur wissen, sich ausschließlich in unserem Kopf abspielt. Alles, was wir von der Natur wissen, wissen wir von unseren Wahrnehmungen. Noch genauer ausgedrückt kennen wir eigentlich nur unsere Wahrnehmungen und diese befinden sich in unserer mentalen Welt.

Es gibt allerdings einen großen Unterschied zwischen den Wahrnehmungen von der Natur und den Regeln und Gesetzen der Mathematik. Die Wahrnehmungen der Natur unterliegen nicht unserem freien Willen. Wir können nicht, oder nur zum Teil beeinflussen, was wir wahrnehmen. Außerdem befinden sich die meisten unserer Wahrnehmungen nicht im bewussten Teil unserer mentalen Welt. Sie können zwar meist sehr schnell ins Bewusstsein geholt werden, aber in der Regel nehmen wir unsere Umwelt nur sehr unzureichend bewusst wahr. Es wäre auch eine glatte Überforderung, wenn wir jedes Detail, das wir sehen, hören, fühlen, schmecken oder spüren können, zu jeder Zeit bewusst wahrnehmen würden. Wir wären geradezu unfähig z.B. eine Nachrichtensendung im Radio zu verfolgen, wenn wir gleichzeitig jedes vorbeifahrende Auto, das Geräusch des Windes in den Bäumen und um unser Haus, die kleinen Geräusche unserer Wohnung und alles andere, was wir hören könnten, versuchten mit in unser Bewusstsein aufzunehmen. Unser Gehirn verschiebt daher die meisten Wahrnehmungen, die es von den Nerven geliefert bekommt, sofort ins Unbewusste und nur dann, wenn etwas Ungewöhnliches wahrgenommen wird, oder wir uns auf eine bestimmte Wahrnehmung konzentrieren, wird diese ins Bewusstsein gelangen.

Beide Sphären, von denen hier die Rede ist, die der Mathematik und die der Natur, liegen also in unserem mentalen Apparat. Die eine in Form logischer Ableitungen aus Axiomen, die andere in Form von Wahrnehmungen.

Der Zusammenhang der Sphären

Betrachtet man die Mathematik als „reine Mathematik“, dann haben die beiden oben angesprochenen Sphären nichts miteinander zu tun. Die Mathematik ist dann nichts als ein Gedankenspiel, welches ausschließlich den Gesetzen der Logik folgt, und, zumindest zunächst, nichts mit der „wirklichen Welt“ zu tun hat.

Betrachtet man die Mathematik allerdings als Mittel, die Welt zu verstehen und begreifbar zu machen, also als „angewandte Mathematik“, dann sieht die Sache zunächst etwas anders aus. Hier ist nur die Mathematik von Wert, die auch in Übereinstimmung mit der wirklichen Welt steht. Diese Forderung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Welt der Wahrnehmungen ja nur bedingt, durch unsere Handlungen, bewusst veränderbar ist, wohingegen die Mathematik „frei“ erfunden werden kann, da sie ja nur ein Gedankenspiel ist. Diese gesuchte Übereinstimmung von beliebigen, frei definierbaren Gedanken zu den festen Wahrnehmungen der Welt, ist aber absolut die gleiche, die Aristoteles gefordert hat, als er seine Logik schrieb. Demnach sind Gedanken von der Welt dann wahr, wenn sie in Übereinstimmung mit den Wahrnehmungen der Welt stehen.

In beiden Fällen geht es also darum „wahre“ mathematische Aussagen zu erhalten und somit ist der Unterschied zwischen „reiner“ und „angewandter“ Mathematik eigentlich aufgehoben und es handelt sich nur noch um den Unterschied, ob man die Logik zuerst bemüht, oder erst hinterher.

































STICHWORTE:

Bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung kommt zu dem axiomatischen Unterbau und den Sätzen dann noch die Induktion hinzu, die den Ereignissen überhaupt erst einmal eine Wahrscheinlichkeit zuweist.



Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist rückwärts gerichtet, sie geht davon aus, dass alles so bleibt, wie es gewesen ist.



„Wahrscheinlich(keit)“: Lässt aßen vor, ob etwas anscheinend oder scheinbar wahr ist. Daher relativiert es den Wahrheitsbegriff und attakiert so die aristotelische Logik. Im Allgemeinen verwenden wir den Begriff in dem Sinne, dass er das anscheinend Wahre bezeichnet, dessen können wir aber streng genommen nicht sicher sein.